Das Telefon klingelte.
»Riedlinger, Stadtjugendamt Keppstadt«, meldete sich eine tiefklingende Frauenstimme.
»Grüß Gott Frau Riedlinger, Nervenarzt Dr. Staiger am Apparat.«
Frau Riedlinger wusste sofort Bescheid. Sehr wahrscheinlich hatte Frau H. wieder einen Nervenzusammenbruch erlitten.
»Ich habe ihr starke Beruhigungsmittel spritzen müssen, da Frau H. schwere Wahnvorstellungen hatte«, klärte Dr. Staiger Frau Riedlinger auf.
»Einen Moment bitte«, erwiderte diese, »ich muss erst die Akten holen«. Zwar kannte Frau Riedlinger Eva H. und damit meine Familiengeschichte recht gut, aber die Akten lagen ihr besonders am Herzen, da diese ihr offensichtlich das Gefühl vermittelten, den Fall im Griff zu haben.
Geduldig wartete Dr. Staiger am Telefon, bis Frau Riedlinger die Akten geholt hatte.
»Die Kinder von Frau H., sieben an der Zahl, müssen nun verteilt werden«, fuhr Dr. Staiger fort.
»Die Zwillinge sind inzwischen in der Obhut der hiesigen Kinderkrippe, wohin sie eines ihrer Geschwister gebracht hat. Frau H. ist in der Nervenheilanstalt.«
Frau Riedlinger wurde nervös und erhob sich von ihrem Schreibtischsessel.
Dr. Staiger gab ihr noch einige Informationen über Eva Hs. Gesundheitszustand. Das war wichtig, denn der Gesundheitszustand entschied regelmäßig über die Aufenthaltsdauer der Kinder von Eva H. – also von meinen Geschwistern und von mir – in den Kinderkrippen oder Kinderheimen. Dieses Mal sprach Dr. Staiger von einem schwerwiegenden Vorfall. Drei bis vier Monate seien für den stationären Aufenthalt von Eva H. in der Nervenheilanstalt vorgesehen; mindestens, aber nur wenn es gut liefe.
Frau Riedlinger hörte angespannt zu und machte sich eilig Notizen.
Nachdem sich Dr. Staiger am Telefon verabschiedet hatte, setzte sie sich wieder auf ihren Stuhl und begann die Akten zu wälzen. Oberstes Ziel war nun, meine Geschwister und mich in die Obhut von Kinderkrippen und Kinderheime zu bringen. Telefonat mit der Kinderkrippe. Dann Telefonat mit dem Kinderheim.
»Wir können die Kinder nicht aufnehmen. Versuchen Sie es bei einer anderen Einrichtung.« Wieder Telefonate. Kein Erfolg. Frau Riedlinger war verzweifelt. Es musste in diesem Land doch irgendeine Einrichtung geben, die in der Lage war, sieben Kinder aufzunehmen. Die gab es aber nicht, wie sich zeigen sollte; zumindest nicht auf die Schnelle. Meine Geschwister und ich hingen vorläufig in der Luft. Die Kinderheime im Nachkriegsdeutschland waren gefüllt mit Kindern, deren Eltern sich in ihrer Rolle überschätzt hatten.
Aktenvermerk des Stadtjugendamtes vom 02.10.19…
An Minderjährigen-Fürsorge
Amtsvormundschaft über C. und C. (Zwillinge), geboren am 07.09.1965.
Die Mutter der beiden oben genannten Kinder (Zwillinge) leidet offensichtlich wieder an einem schizophrenen Schub und muss in die Nervenheilanstalt in … eingewiesen werden. Die oben genannten Zwillinge wurden daher heute von der älteren Schwester in der …krippe untergebracht. Voraussichtlich werden auch die älteren Geschwister in den nächsten Tagen im Kath. Jugendheim in …. untergebracht werden müssen. Es wird gebeten, die Kosten für die Heimunterbringung der Zwillinge zu übernehmen.
Frau Riedlinger nahm ihre Arbeit ernst. Sie wählte sich die nächsten Tage die Finger wund. Dann irgendwann mehrere Volltreffer; wenn auch keine familienfreundliche Lösung, so doch immerhin eine Lösung.
Frau Riedlinger lehnte sich zufrieden zurück. Akte zu, Kinder verteilt. Gott sei Dank waren die Kinder gut versorgt, dachte sie.
Aktenvermerk des Stadtjugendamtes vom 04.10.19…
An Minderjährigen-Fürsorge
Wir verweisen auf unseren Antrag vom 02.10.19... wegen der Zwillinge C. u. C.Gestern Abend wurden auch die Kinder A 1., S., G., und A 2. im kath. Jugendheim untergebracht, nachdem nun die Mutter endgültig am 02.10.19... in die Nervenheilanstalt in … untergebracht worden ist. Wir bitten, die Kosten für die Heimunterbringung der anderen Geschwister ebenfalls übernehmen zu wollen.